Wir sammelten einige in der Praxis vorkommende Beispiele aus dem ungarischen Kinderschutz, die mit dem Gesetz oder mit den Zielen des Systems im Widerspruch stehen.

  1. Es ist verboten, ein Kind ausschließlich aus finanziellen Gründen aus der Familie zu holen, trotzdem kommt es manchmal vor. Das in Ungarn gültige Kinderschutzgesetz sagt: „Das Kind darf ausschließlich wegen durch finanzielle Gründe entstandener Gefährdung nicht von seiner Familie getrennt werden.” Im Gegenteil dazu werden viele Kinder (lt. hauptstädtischen Daten 20 Prozent der Kinder) in der Praxis aus finanziellen Gründen oder Wohnproblemen – zum Beispiel wegen der Obdachlosigkeit der Eltern – in Fachbetreuung eingewiesen. Natürlich geht das einher – in Zusammenhang mit Armut kommen auch häufig andere Probleme vor, und die Familien mit schlechteren finanziellen Hintergrund sind eher im Blickfeld der Behörden.
  2. Die Mehrheit der staatlich betreuten Kinder hängt im System fest. Laut des Gesetzes ist das Hauptziel der staatlichen Betreuung den Kindern die Möglichkeit zu geben, in die eigene Familie zurückzugelangen. Wenn keine Möglichkeit besteht, sollte eine Familie gesucht werden, die sie adoptiert. In der Mehrheit der Fälle gelingt aber keines von beiden. Laut den Daten des Ungarischen Statistischen Zentralamts (ung. KSH) konnten im Jahre 2013 von 5000 Kindern insgesamt 1500 Kinder zurück zu ihrer eigenen Familie und 360 Kinder zu Adoptiveltern gehen. Viele Kinder werden von ihren Eltern nur halbjährlich oder überhaupt nicht besucht und zur Adoption sind sie bereits zu alt, sodass sie in der staatlichen Betreuung bleiben.
  3. Die Kinder verbringen im Durchschnitt 5,5 Jahre in der Betreuung. Es gibt keine Frist, bis wann die leibliche Familie ihre Umstände in Ordnung zu bringen hat. Zum Beispiel hat in den Vereinigten Staaten eine Familie dafür ein Jahr Zeit. Mit dem Ablauf der Frist und dem Nichtgelingen der Familie entzieht das Gericht das Fürsorgerecht. Ein Kind ist dort im Durchschnitt nur 13,5 Monaten in Pflege.
  4. Mit zweiwöchigen oder monatlichen Besuchen kann eine Eltern-Kind-Beziehung nicht aufrechterhalten werden.Das Jugendamt schreibt so eine Ordnung zur Aufbewahrung der Beziehung vor, aber solange die Zielvorstellung ist, dass das Kind in die Familie zurückkommt, sollten sie sich mehrmals wöchentlich, mindestens einmal pro Woche treffen. Manchmal wird das Kind von der Familie so weit entfernt versetzt, das ein Besuch ist schwer durchführbar ist, besonders im Fall von Familien, die sowieso mit finanziellen Probleme kämpfen.tpa-picture-54961.JPG
  5. Die jährliche Versorgung eines Kindes in staatlicher Betreuung kostet ein bis vier Millionen Forint, aber es gibt keine Methode, einen Teil der Summe zur Verstärkung der Familie oder zur Bekämpfung ihrer Wohnprobleme zu nutzen. Die Fachbetreuung wird aus dem Zentralbudget finanziert, die Vorbeugung zur Verarmung der Familien muss die lokale Selbstverwaltung finanzieren. Eine Geldquelle zur Vorbeugung der Aushebung der Kinder aus schwachen finanziellen Hintergrund existiert nicht.
  6. Je nach Jugendamt ist es unterschiedlich, ob das Kind bereits wegen umgebungsabhängigen unterdurchschnittlichen Normen aus der Familie geholt wird, in anderen Fällen bleiben schwere Vernachlässigungen manchmal mehrere Jahre lang unberücksichtigt. Die Mindestvoraussetzungen, die dazu erfüllt werden müssen, dass das Kind in der Familie bleiben kann, werden nicht flächendeckend bestimmt. Manchmal wird die ärmliche Lebensform schon als Gefährdung verurteilt, und das Kind in Fachbetreuung eingewiesen.
  7. An einer Familie aus benachteiligtem Hintergrund arbeiten mehrere Fachleute. Häufig herrscht zwischen ihnen keine Harmonie und die Erstellung eines gemeinsamen Handlungsplans fällt schwer. Wenn das Kind in der Fachbetreuung ist, wird oftmals nicht abgestimmt, was das Ziel dieser Betreuung ist – die Rückführung in die Familie oder die Bewahrung der Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind. Häufig haben die leiblichen Eltern keine Möglichkeit die Voraussetzungen zu erfüllen, um ihre Kinder zurückzubekommen.
  8. Die Dienste, die den Familien helfen sollten, bedrohen sie in schweren Situationen manchmal mit der Trennung ihrer Kinder.
  9. Es dauert häufig Monate oder Jahre, bis das Kind für adoptierfähig erklärt wird.Nach der Erklärung vergeht im Durchschnitt ein halbes Jahr, bis das Kind in seinem eigenen Komitat adoptiert wird, bis zu einer Adoption in weiter entfernte Gegenden oder ins Ausland kann schon mal ein ganzes Jahr vergehen. Mit den leiblichen Eltern beschäftigen sie sich nicht, obwohl das Verfahren der Adoption mit der Vereinbarung der Eltern beschleunigt werden könnte.tpa-picture-52957
  10. Manchmal wird das Kind nicht für adoptierbar erklärt, weil es „ihm bei den Pflegeeltern so gut geht”, oder bereits die Schule besucht.Aber das Interesse des Kindes ist, in eine endgültige Familie zu gelangen. Bis zum 10. Lebensjahr des Kindes kann man noch Adoptivfamilien finden, notfalls im Ausland. Den Ausfall der Elternbesuche beurteilt jedes Komitat auf eigene Weise – mancherorts passiert auch nach sechs Monaten nichts, in anderen Komitaten werden schon bei nur zwei Besuchen in vier Monaten die Hebel in Gang gesetzt, ganz woanders wird der Fall auch bei längeren Pausen außer Acht gelassen. Wenn ein Kind keine Möglichkeit hat, in die Familie zurückzugelangen, es aber ab und zu besucht wird, dann wird es im Allgemeinen nicht für adoptierbar erklärt. Auch gibt es keine Einigkeit zwischen den Jugendämtern, ob sie selbst das Fürsorgerecht entziehen dürfen, oder ob ein Gerichtsverhandlungstermin festgelegt werden muss.
  11. Aus jährlich ein bis vier Millionen Forint können solche Jugendlichen erzogen werden, die ungebildeter sind, als der Durchschnitt. Die Hälfte der Durchschnittsbevölkerung macht Abitur, aber nur ein Viertel der Jugendlichen in der Fachbetreuung. Die frühkindlichen Traumata spielen eine große Rolle bei ihren Lernschwierigkeiten.
  12. Die kirchlichen Pflegeelternnetze bekommen eine größere Kopfquote pro Kind.Laut des in Ungarn gültigen Budgetgesetzes bekommen die im Besitz der Kirche befindlichen Kinderschutznetze eine 71,4 Prozent höhere Unterstützung pro Kind.  Dies ist diskriminierend den Kindern gegenüber. Auch ansonsten ist die Finanzierung unübersichtlich, die Netzwerke des Staats und der Selbstverwaltung bekommen ergänzende Unterstützung vom ihren Trägern, die Lage der zivilen Netze ist demensprechend schwer. Insgesamt deckt auch der Pro-Kopf-Zuschuss von weniger als eine Millionen Forint die tatsächlichen Kosten nicht.
  13. Kinder unter 12 Jahren könnten nicht in ein Heim versetzt werden, in der Praxis kommt es trotzdem vor. Seit 2014 können Kinder unter 12 Jahren daher nur zu Pflegeeltern kommen, bis 2016 sollten alle Heimkinder graduell versetzt werden, aber es gibt nicht genug Pflegeeltern. Bisher gibt es keine Alternativen für den Fall, dass keine Pflegeeltern gefunden werden.
  14. Roma-Kinder gelangen mit größerer Wahrscheinlichkeit in die Fachbetreuung und sie werden häufiger für Behinderte erklärt.Laut einer Studie des Europäischen Zentrums für die Rechte der Roma (ung. Európai Roma Jogok Központja) sind Roma-Kinder unter den Kindern in der staatlichen Betreuung überrepräsentiert.
  15. Geschwister sollten prinzipiell immer zusammen in ein Pflegeheim versetzt werden, aber in der Praxis gelingt es nicht immer.Bei den Pflegeeltern gibt es nicht unbedingt genügend freie Plätze und die Versetzung einer weiteren Schwester und eines Bruders kann auch problemhaft sein. (Auf internationaler Ebene kann es problematisch sein, da die Unterbringung von drei oder mehr Geschwistern in den meisten Ländern nicht garantiert ist.)

Aus dem Ungarischen von Zsófia Papp

Lektoriert von Charlotte D.