Alexandra Vajgel wuchs mit ihren drei Geschwistern im SOS-Kinderdorf  Battonya auf. Das 18-jährige Mädchen mit ernsten Gedanken erzählt, wie sie ins SOS-Kinderdorf geraten ist und wie die Beziehung zu ihrer Pflegemutter, zu ihren Eltern und zu ihren Geschwistern ist.

Wie lange lebst du schon hier?

Seit 11 Jahren. Ich wurde mit zusammen meinen drei Schwestern ins SOS-Kinderdorf gebracht. Damals waren wir zwischen drei und acht Jahre alt. Ich bin die Dritte in der Reihe.

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Wie hast du es erlebst, als du von deiner Familie wegkamst?

Mittlerweile halte ich es für richtig, denn unsere Eltern gingen nicht gut mit uns um. Als Kleinkind dachte ich da natürlich anders. Es gefiel mir nicht, dass ich an einen fremden Ort gebrachte wurde. Meine Mutter brachte uns herein, und sagte, wir werden nur spielen und im Urlaub sein. Wir spielten ein, zwei Stunden und in der Zwischenzeit entfernen sich unsere Eltern. Danach besuchten sie uns eine Weile lang regelmäßig, dann immer seltener, und irgendwann wurden wir vergessen. Später hatten wir fast gar keinen Kontakt mehr.

Haben sie nicht gekämpft euch zurückzubekommen?

Nein.

Verletzt das dich?

Teilweise ja. Es wäre gut gewesen, wenn sie mich ab und zu unterstützt hätten, zum Beispiel wenn sie bei einem Handballspiel zugeguckt hätten, aber andererseits habe ich mich daran gewöhnt. Zu meiner Mutter habe ich mittlerweile keinen Kontakt, mein Vater meldet mich manchmal, aber auch zu ihm halte ich kaum die Beziehung.

Kannst du dir vorstellen, warum sie dich nicht besuchten?

Ausreden gibt es immer….

Offensichtlich war es ihnen unangenehm, dass sie aus dem Leben ihrer Kinder so sehr hinausgedrängt wurden. Hier gibt es eine Pflegemutter, die euch besser kennt, als sie…

Sie könnten immerhin darauf stolz sein, dass ihre Kinder an einem besseren Ort sind und eine wunderbare Pflegemutter sie erzieht. Wir hängen sehr an Panni, so als wäre sie unsere leibliche Mutter. Hier ist es ganz anders als zu Hause, sie kümmern sich mehr um uns, wir spüren mehr Liebe – nicht nur von Panni, sondern auch vom ganzen SOS-Kinderdorf und von Leuten aus der Umgebung. Auch die Büroangestellten halfen uns sehr viel – beim Lernen, beim Suchen einer Schule und einer Sommerarbeit. Wenn wir krank wurden, konnten wir immer mit Onkel Laci und Gergő rechnen. Begleitet von Pflegeeltern brachten sie uns mit dem Auto  ins Krankenhaus.

Und auch unser Gärtner stand uns immer zur Verfügung, wenn wir ihn darum baten. Er kümmert sich liebevoll um den Hof, der immer ordentlich und schön ist. Csabi und die anderen in der Werkstatt lehrten den interessierten Jugendlichen solche Arbeiten, die in ihrem  Leben sehr nötig sein könnten, und die ein Junge unbedingt gelernt haben sollte, z.B.: Bohren, Schnitzen, Malern…

Ist Panni deine Pflegemutter?

Ja. Von ihr haben ich und meine Schwestern viel gelernt. Bis zu meinem fünften Lebensjahr konnte ich viel schlechter reden, als die Gleichaltrigen – ich lispelte. Sie brachte mich zu einer Logopädin und  half mir viel beim Erlernen gewisser Wörter. Sie behandelte uns, als wären wir ihre eigenen Kinder. Als ich die achte Klasse beendete, wusste ich nicht, was ich machen sollte, und alle waren sehr hilfsbereit. Sie teilten ihre Meinungen, und wir schauten uns Schulen zusammen an. Danach ließen sie mich selbst wählen, und so konnte ich das lernen, was ich wirklich wollte.

Hast du gute Noten?

Meistens bekomme ich eine Zwei.

Jetzt machtest du das Abitur. Möchtest du nicht auf die Universität gehen?

Doch, aber ich habe mich zu spät beworben – aber kein Problem, ich habe Zeit. Erst einmal erlerne ich einen Beruf und danach gehe ich auf die Hochschule. Auch dabei werden mir die Dorfbewohner viel helfen.

Was wirst du machen, wenn du das Dorf verlässt?

Ich werde sie oft besuchen. Meine großen Schwestern leben schon nicht mehr hier. Zita lebt in Szeged und beendet bald die Uni, worauf ich sehr stolz bin. Niki hat einen Sohn, und sie besuchen oft Panni, als sie seine Großmutter wäre.

Szandra

Wie lange möchtest du hier bleiben?

Solange ich kann. Wir denken über den Kauf eines Hauses nach, welches wir aus Fördergeldern bezahlen würden. Dort  würde ich mit meinem Freund wohnen.

Wo hast du ihn kennengelernt?

Wir lernten uns bei einem athletischen Wettbewerb in Békéscsaba kennen.

Und würdest du als 18-jähriges Mädchen in ein eigenes Haus ziehen?

Ja, Schritt für Schritt, meine Pflegemutter würde mir helfen, natürlich bleibe ich weiterhin ihr Schützling. Hier hilft mir jeder sehr viel bei der Arbeit, der Auswahl der Schule, und sie bemühen sich, uns zur Selbstständigkeit zu erziehen.

Eine normale 18-Jährige rebelliert gegen ihre Eltern…

Ich nicht. Wir haben kleinere oder größere Konflikte, aber wir lösen sie. In diesem Alter sollte man wie eine Erwachsene denken.

Sind auch deine Geschwister so ernst?

Zita ja, die zwei anderen nicht so sehr, sie sind eher ein bisschen eigensinnig. Niki brachte sehr jung ein Baby zur Welt, womit wir nicht so einverstanden waren. Ihre damalige Beziehung zum Vater des Babys war auch nicht ganz stabil, weswegen wir uns viele Sorgen gemacht haben. Es gab sehr viel Streit, aber wir respektierten ihre Entscheidung. Und meine andere kleine Schwester ist noch ein kleines Mädchen, aber auch sie wird mit der Zeit erwachsener werden.

Du sprichst so reif. Bist du anders als die Gleichaltrigen?

Andere Jugendliche in meinem Alter leben bei ihren Eltern und sie machen sich über das Leben nicht so viele Gedanken. Aus diesem Grund wollte ich früher nicht über das Kinderdorf sprechen, nur so fühlte ich mich ernstgenommen. Lange Zeit wussten nur einige Freunde und Teammitglieder, dass ich im SOS-Kinderdorf wohne. Ich schäme mich nicht und wenn jemand fragt, hören sie interessiert zu, wie ich davon erzähle. Sie überschütten mich mit zahllosen Fragen, weil es für sie völlig unbekannt und neu ist. Früher störten mich die viele Fragen und ich konnte es schwer erklären. Manchmal bedauerten sie mich sogar und ihre Augen wurden ganz nass. Das war ein schlechtes Gefühl, weil wir hier ja glücklich sind und wohlbehütet leben. Jetzt weiß ich: man soll stolz darüber reden, dass wir an einen besseren Ort gelangten, und das aus uns etwas werden kann. Bei unseren leiblichen Eltern wäre das unvorstellbar gewesen.

Kennst du noch andere Pflegekinder?

In anderen Netzwerken? Ja. Sie leben genauso wie wir, aber wir gewöhnten uns daran, dass unsere Freunde nur wenige Schritte von uns entfernt leben.

Möchtest du Kinder?

In ein paar Jahren vielleicht.

Wirst du sie so erziehen, wie Panni dich erzog?

Ja.

Übernimmst du etwas von deiner leiblichen Familie?

Nein. Da bin ich zu hundert Prozent sicher. Damit, dass wir hier leben, habe ich kein Problem, aber sie besuchten uns kein einziges Mal. Hier im Haus wohnt noch ein Geschwisterpaar mit uns, deren Eltern sie besuchen und wo die Kinder auch regelmäßig nach Hause fuhren um Zeit mit ihren Eltern zu verbringen. Die bekamen es irgendwie hin und wenn es sein musste, kamen sie sogar mit dem Fahrrad.

Machten deine Eltern alles schlecht?

Ja. Ich denke, dass man es hätte hinkriegen können, dass wir nicht weggenommen hätten werden müssen, oder auch, dass sie uns regelmäßig besuchen.

Hast du das mit ihnen geklärt?

Mit meinem Vater sprachen wir mehrmals darüber, warum sie nicht mit uns reden. Ich sagte ihm diese Dinge, aber es hängt von ihm ab, ob er es auffasst. Leider nicht. Mit meiner älteren Schwester hat er zum Beispiel einen Zeitpunkt und –ort zum Treffen vereinbart, und er kam einfach nicht, weil er angeblich Hunger hatte, und nach Hause ging um etwas zu essen. Es gibt immer Ausreden. Es ist wirklich schwer nach diesen Ereignissen den ersten Schritt zu machen. Wir sind groß, wahrscheinlich tut es ihm auch weh, das verstehen wir. Aber damals waren wir kleiner. Das schmerzte damals viel mehr, weil ein Kleinkind noch sehr stark an seinen Eltern hängt, unabhängig davon, wie sie ihre Kinder behandeln. Wir hingen auch sehr an unseren Eltern. Wenn ich zurückdenke, dann haben sie sich nach einer Weile nicht mal mehr gemeldet, haben der Sache nicht mehr ins Auge gesehen, ihr den Rücken zugekehrt und der Kontakt brach dann vollständig ab. Hatten sie Angst? Ja, vielleicht davor, dass wir größer wurden, und wir die Sachen um uns herum zu verstehen begannen. Die Flucht ergreifen ist immer einfacher, als der Wirklichkeit entgegenzusehen. Zita versucht es, aber mein Vater flieht noch immer. Er verpasste später nochmal eine Gelegenheit, und vielleicht hat er keine dritte Chance mehr. Uns tut diese Ablehnung auch sehr weh. Mit der Zeit wird man den Versuchen überdrüssig und beschäftigt sich nicht mehr damit.

Macht du dir darüber Gedanken, was die beste Lösung gewesen wäre?

Ich glaube, dass wir bei einer Pflegemutter groß wuchsen, ist das Beste gewesen.

Und wenn ihr adoptiert worden wärt?

Nur wenige nehmen vier Schwestern auf. Dann wären wir voneinander getrennt. Jetzt sind wir zusammen und das ist sehr gut so. Wir können uns aufeinander stützen und alles besprechen.

Aus dem Ungarischen von Zsófia Papp

Lektoriert von Charlotte D.