Wer arbeitet eigentlich bei der SOS-Kinderdorf-Stiftung? Gosztonyi Gábor ist der Geschäftsführer der ungarischen Stiftung der SOS-Kinderdörfer (Anm. der Redaktion – in Deutschland ist dies ein Verein, in Ungarn eine Stiftung). Bevor er zum Kinderschutz wechselte, war er drei Jahrzehnte in der Geschäftswelt tätig. In unserem Gespräch haben wir mit ihm über die Leitung einer internationalen Organisation, über den Umzug des Battonyaer Kinderdorfes und über die Zielsetzung der Unabhängigkeit innerhalb von 5 Jahren gesprochen.

Wie bist du zur SOS-Kinderdorf-Stiftung gekommen?
Früher habe ich meine Lebtage in der Geschäftswelt verbracht. In der Filmbranche, in der Druckindustrie, im Außenhandel, in der Textilindustrie und in der Beratungsbranche war ich tätig. Fünf bis sechs Jahr habe ich bei Unilever gearbeitet, davon zwei in Chile, später war ich Geschäftsführer bei Philips, als sie die siebtgrößte Firma in Ungarn war. Nach einer Zeit verspürte ich den Drang, etwas von helfender Art zu tun. Als es zwischen 2006 und 2008 dem Arbeitsmarkt nicht gut ging, habe ich entschieden, als Freiwilliger irgendeiner Organisation zu helfen, sobald ich in den Ruhestand gegangen bin. Und als ich dann 2011 die Stellenausschreibung der SOS-Kinderdorf-Stiftung sah, war mir klar, dass das wie für mich gemacht ist.

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Viele Geschäftsleute haben das Bedürfnis, irgendein gemeinnütziges Ziel zu verfolgen. Viele Arten sind dabei denkbar: Berufswechsel, eine eigene Organisation zu gründen, einen Teil seines Einkommens oder seiner Arbeitszeit einer zivilen Organisation zu spenden… Warum hast du dir gerade diesen Weg und den Kinderschutz ausgesucht?

Dass man sein Wissen auch auf gemeinnützige Art und Weise anwendet, kommt aus der Familie. Mein Vater war Arzt, meine Mutter Anwältin, mein Bruder Sozialarbeiter. Ich bin zwar Ökonom, aber nach einer Zeit fand ich es an der Zeit sich mit Kinderschutz zu beschäftigen. Der Zufall bringt eigentlich ziemlich vieles zu Stande, auch, dass mir genau diese Stellenausschreibung ins Auge traf. Was der SOS-Kinderdorf-Stiftung zu Gute kommt, ist, dass ich mindestens die Hälfte meiner bisherigen 30-jährigen Berufstätigkeit bei internationalen Konzernen verbracht habe. Ich weiß also, wie man mit diesen umgeht und wie ich Erfolgsmethoden in Ungarn umsetzen kann – und bei der SOS-Kinderdorf-Stiftung gab es viele Abläufe, die nach Erneuerung riefen. Ich habe neuen Wind in die Stiftung gebracht, was aber auch damit zusammenhängt, dass sich die internationale Schirmorganisation der SOS-Kinderdörfer auch wahnsinnig verändert hat. Die Leitung einer Organisation hängt im Übrigen nicht davon ab, wem sie gehört, ob sie staatlich oder zivil ist. Jede Organisation muss nachhaltig handeln. Man muss ich in der zivilen Branche und auch im Geschäftssektor auskennen. Die Ungarische SOS-Kinderdorf-Stiftung ist mit ihrem Haushalt von 1,5 Milliarden Forint und ihren 200 Mitarbeitern schon ein mittelgroßes Unternehmen.
Und im Übrigen unterstütze ich auch andere Organisationen mit freiwilligen Arbeit.

Du hast viele Veränderungen bei der SOS-Kinderdorf-Stiftung eingeführt. Wie hast du den organisatorischen Widerstand bewältigt?
Unsere Schirmorganisation schreibt uns zahllose Veränderungen vor. Ein wichtiger Aspekt ist die Unabhängigkeit bis 2020, denn bis jetzt wurde die ungarische Stiftung von der Internationalen finanziell unterstützt. In den letzten drei Jahren haben wir viel Energie in die notwendigen Erneuerungen gesteckt und auch der Vorstand verstand, dass es erforderlich ist. Der Widerstand ist unabdingbar, aber es liegt am Vorstand, ob er die Mitarbeiter einbezieht oder nicht. An unzähligen Einsatzstätten haben wir versucht die Meinung der Menschen in die innerhalb von sechs Monaten fertiggestellte Strategie zu packen, die wir in 2013 verabschiedet haben. Rund 40 Mitarbeiter haben daran gearbeitet. Nachdem es fertig war, haben wir innerhalb eines halben Jahres bei sechs bis acht Werkstatttagen die Strategie vorgestellt und gemeinsam mit den Mitarbeitern erklärt, wie diese Strategie zu verstehen ist und wie sie in der Praxis aussehen soll. Uns war es dabei sehr wichtig, dass wir die Menschen einbeziehen. Ich denke, es ist nicht gut, wenn ein Mitarbeiter eine Aufgabe bekommt, sie erledigt und das war‘s, sondern wenn wir seine Ideen verwenden, dann können wir einen viel größeren Nutzen daraus ziehen.

Offensichtlich ist die finanzielle Unabhängigkeit dann erreichbar, wenn der Erlös steigt und mehr gespendet wird. Genaugenommen was kann eine Pflegemutter dafür tun?
Unglaublich viel. Noch ganz am Anfang hörte ich den Satz „Everybody is a fundraiser.“ (Jeder ist ein Spendensammler). Jeder, der bei der Stiftung angestellt ist, kann etwas für unser Image tun. Während bei einer Firma ein Produkt verkauft wird, gibt es bei uns nichts Greifbares. Bei uns sorgen die ankommenden Spenden dafür, dass wir unseren Aufgaben nachgehen können. Aber jeder, der bei uns arbeitet, kann dafür sorgen, dass wir bekannter werden und unsere Botschaft in die Welt setzt – in dem er in seinem Bekanntenkreis von uns erzählt. Viel mehr kann man gar nicht tun, als Menschen zu begeistern, die wiederrum Begeisterung weiterbringen. Das funktioniert genauso wie das Multi-Level-Marketing. Oftmals wird jemand aufgrund der Erzählungen Gönner und spendet.

Auch in diesem Bereich ist der Wettbewerb stark, viele hochwertige Angelegenheiten und zivile Organisationen ringen um die Spenden.
Das stimmt, und leider hängt die ungarische Spendenkultur immer noch auf einem sehr niedrigen Niveau. Daran können wir alleine nichts ändern, weil wir nur eine von 35.000 zivilen Organisationen sind, doch im Vergleich zu unserer Größe verfügen wir über eine große Bekanntheit. Laut einer Studie sind wir die Zweibekannteste zivile Organisation, aber das bedeutet nicht, dass die Menschen uns auch am zweitmeisten spenden. Spenden tun sie als erstes für kranke Kinder, dann für Tiere und erst an dritter Stelle für gesunde Kinder. Wir versuchen solche Veranstaltungen und Aktionen zu organisieren, die ausreichend Informationen über uns preisgeben und uns damit bekannter machen.

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Was ist Erfolg in deinem Beruf? In einem Betrieb misst man den Erfolg am Profit, aber eine zivile Organisation kann man nicht anhand seiner erhaltenen Spenden beurteilen.
Spenden sind hier kein Erfolg, sondern die Voraussetzungen für unser Handeln. Uns ist nicht nur wichtig, dass wir dem Kind solange es bei uns lebt alles geben, was wir können, sondern auch, dass es eigenständig und glücklich leben kann, wenn es uns verlässt. Das Ziel soll es sein, dass jeder unserer Schützlinge eine, lieber zwei, Berufe erlernt und dass jeder eine eigenständige Wohnung hat, bevor er auszieht. Wenn diese Voraussetzungen stimmen, dann kann es auf eigenen Beinen stehen und dieses ist unser wichtiges Ziel.

Messt ihr das?
Ja, wir versuchen es mit Kindern aus anderen Netzwerken zu vergleichen, aber es ist sehr schwer, passende Daten zu finden. In 2008 haben wir eine Studie gestartet, bei der wir uns die Situationen aller jungen Erwachsenen angeschaut haben, die in SOS-Kinderdörfern aufgewachsen sind und dann ausgezogen sind. Diese Eindrücke haben wir dann mit durchschnittlichen Statistiken verglichen. Natürlich ist es uns nicht gelungen, jeden zu erreichen, aber wir haben ein besseres Ergebnis erreicht, als andere Kinder aus anderen Netzwerken. Zurzeit sind wir das einzige unabhängige zivile Netzwerk, die anderen sind alle staatlich oder kirchlich. Die Staatlichen bekommen staatliche Unterstützung, die Kirchlichen bekommen sie von der Kirche. Deswegen sind auch alle bisherigen zivilen Netzwerke in Kirchliche umgewandelt worden. Wir werden diesen Schritt niemals gehen, und so bekommen wir auch nur eine Grundunterstützung.

Bei zivilen Organisationen gibt es branchenweit sehr gute Funktionsweisen, welche man übernehmen könnte. Gibt es solche Organisationen, von denen ihr lernen könnt?
Auf unserem Gebiet gibt es so etwas nicht, aber in Ungarn gibt es eine ganze Reihe von gut funktionierenden internationalen Organisationen: WWF, Greenpeace, Bátor Tábor (Anm. d. Red.: eine Organisation, welche sozialbenachteiligen Kindern Sommerlager ermöglicht), UNICEF… Wir beachten uns gegenseitig und lernen viel voneinander. Wir sind Mitglied der Freiwilligen Körperschaft für Spendensammelnde Organisationen, welche aus diesem Grund entstand, damit ein Standard zur Transparenz von Organisationen entsteht, der diese skandalösen Spendensuchenden Angelegenheiten ersetzt. Wir bestehen erst aus 14 Mitgliedern, aber wir achten einander, freuen uns des anderen Glücks und schauen, ob und welche Probleme es gibt.

Was ist das Schwerste an deiner Arbeit?
Ich arbeite viel, aber das ist bei mir normal. Es gibt zahlreiche klitzekleine Probleme, und es ist meine Aufgabe, dass ich sie löse oder meinen Kollegen helfe, sie zu lösen. Die größten Kopfschmerzen verursacht wohl das, dass wir bis 2020 unabhängig sein sollen.

Bist du dann noch da?
In 2020 gehe ich in den Ruhestand, aber meine Aufgabe ist es auch, meinem Nachfolger den Weg zu bereiten.

Wie viel Selbstständigkeit hast du als Leiter der ungarischen SOS-Kinderdörfer?
Die SOS-Kinderdörfer sind ein Bund, nicht so einer, wie eine multinationale Firma, wo ein internationales Zentrum konkrete Anweisungen gibt. Bei uns gibt es in jedem Land einen Verein oder eine Stiftung, die sich zu einem Bund zusammenschließen. Die Mitglieder des ungarischen Kuratoriums sind in der Mehrheit nicht die Mitarbeiter der ungarischen SOS-Kinderdorf-Stiftung. Bei den SOS-Kinderdörfern gibt es viele gemeinsame Leitlinien, welche wir auch gerne befolgen. Aber es gibt halt auch viele solcher Geschichten, für die Ungarn individuelle Lösungsansätze erarbeiten muss, und nach diesen Konsultationen erhalte ich ziemlich viel Selbstständigkeit.

War es eine ungarische Entscheidung, dass das SOS-Kinderdorf aus Battonya nach Orosháza umzieht?
Das war Teil einer Strategie, welche wir in Ungarn zusammengestellt haben. Nachdem wir erfolgreich an der Ausschreibung der Velux Stiftung teilgenommen haben, erhielten wir Fördergelder für die Umsetzung dieses Plans. Also war dieser Umzug eine ungarische Entscheidung, aber das Konzept des integrierten Dorfes ist eine SOS-Konzeption, welche wir von internationalen Modellen übernommen haben.

Wenn ich in diesen Dörfern unterwegs bin, spüre ich einerseits ganz deutlich diesen „SOS-Geist“, der viel stärker ist als bei anderen Pflegeeltern-Ketten. Und andererseits spüre ich auch diese überbeschützte Welt. Die Kinder erzählten, dass sie nicht zum Arzt hingehen müssen, weil wöchentlich ein Arzt vorbeikommt. Habt ihr Angst, dass ein weniger integriertes Dorf diesen „SOS-Geist“ auflöst?
Nein, weil die Unterstützung genau dieselbe sein wird, nur dass die Pflegefamilie zu größerer Selbstständigkeit gezwungen ist. Wir möchten, dass die Kinder aus dieser Blase herauskommen und in ihrer Pflegefamilie genau diese Erfahrungen machen, als würden sie in einer leiblichen Familie leben. Die Kinder spielen also genau so mit ihren Nachbarskindern, sehen, dass ihr Vater Feuerwehrmann ist, und wollen vielleicht selber Feuermann werden. Die SOS-Kinderdörfer verändern sich. Als sie nach dem zweiten Weltkrieg gegründet wurden war lautstark die Rede von familienbasierte Fürsorge – nur inzwischen hat sich die Welt auch verändert. Und vor zehn Jahren wurden auf der Welt nur integrierte Dörfer gebaut, und erst jetzt holen wir die Rückstände auf.

Wie häufig bist du in den Dörfern?
Regelmäßig halte ich Foren für die Mitarbeiter und auch in Verbindung von Veranstaltung besuche ich sie. Überall tauche ich jährlich so drei- bis viermal auf.

Was machst du in deiner Freizeit?
Ich liebe es zu verreisen und gebe mein ganzes Geld dafür aus. Ich fotografiere gerne und höre Musik. Ich habe drei erwachsene Kinder, die aber nicht mehr bei uns wohnen.

Aus dem Ungarischen von Charlotte D.