Viele wissen von Iván Bagi, dass er in einem Kinderheim aufgewachsen ist. Der bekannte Parodist hat über die Jahre im Kinderheim, über seine Familie und sein Leben erzählt. Er hat sich an der SOS-Familienstärkungsprogram angeschlossen und unterstützt damit zum ersten Mal Kinder in öffentlicher Vorsorge.
Du bist als Säugling in Pflege gegeben worden. Was lautet deine Geschichte?
Zu Beginn scheint sie eine komplizierte Sache zu sein. Meine Mutter war verheiratet und hatte zwei Kinder von ihrem Mann, mit dem ihre Beziehung früh in die Brüche gegangen war. In dieser Zeit hat sie meinen Vater kennengelernt. Ich bin also aus einer ausßerehelichen Beziehung geboren. Ihr Mann hat sie sofort weggeschickt, als er erfahren hatte, dass sie mit mir schwanger ist. Sie musste wegen der Scheidung nach Budaörs (eine kleine Stadt in der Nähe von Budapest) umziehen, wo ihr Ex-Mann ein Haus gekauft hat. Eigentlich war meine Mutter die Liebhaberin von meinem Vater, deshalb wollte mein Vater nicht, dass meine Mutter mich behält. Ein paar Monate nach meiner Geburt hat meine Mutter mich ins Kinderheim gegeben. Sie hat mich nie besucht, aber manchmal ist sie gekommen und hat mich aus verschiedenen Gründen zu sich genommen um mich dann nach kurzer Zeit wieder zurück ins Kinderheim zu geben. Bis zu meinem 9. Lebensjahr habe ich so gelebt, bis mich meine große Schwester endlich adoptiert hat. Ein interessantes Zusatzdetail ist, dass nachdem ich geboren bin, mein Vater die Vaterschaft nicht anerkannt hat. Meine Mutter hat Klage auf Vaterschaftsfeststellung erhoben, die 9 Jahre lang gedauert hat.
In deinem Buch (Csak szeretet legyen. Auf Deutsch: Es soll nur Liebe geben.) erzählst du von einer Erzieherin, von der du nur schlechte Erinnerungen hast.
Meine Mutter hat mich damals zu Mama Bodnár gegeben. Vor meiner Adoption habe ich habe die meiste Zeit bei ihr verbracht, nämlich zwei Jahre. Mama Bodnár konnte Kinder nicht ausstehen, und hat uns regelmäßig ohne Grund geschlagen. Einmal bin ich davon aufgewacht, als sie mich gerade schlägt. Sie war wütend auf mich, weil das Gitter unter mir zerbrochen ist. Wir haben in großer Armut gelebt und fast nichts zu essen bekommen. Noch dazu hatte sie auch einige problematische, sich schlecht benehmende Kinder, deren Eltern im Gefängnis waren. Frau Bodnár konnte nicht gut mit ihnen umgeben, Gewalt war ihr einziges Mittel.
Hast du dich bei jemandem darüber beschwert, was zwischen den vier Wänden passiert ist?
Nein. Ich habe mich daran gewöhnt, ich wurde so erzogen.
Deine Kindheit hast du zum Großteil in der Kinderstadt in Fót verbracht. Was fällt dir sofort ein wenn du daran denkst?
Dass ich immer Hunger hatte, weil es kleine Portionen gaben. Wenn man das Essen sehr schnell aufgegessen hat und seinen Teller makellos geputzt hat, dann konnte man den Anschein erwecken, dass man noch nichts bekommen hat, und so konnte man noch einmal eine kleine Portion bekommen. Das Kinderheim in Fót galt übrigens als ein besonderer, zauberhafter Ort. Es hatte einen großen, wunderbaren Park mit Wald, und seine Hauptgebäude waren alte bürgerliche Schlösser. Diese fantastische Umgebung hatte guten Einfluss auf meine Fantasie.
In deinem Buch schreibst du, dass ihr in Fót oft geschlagen wurdet, und du in der Nacht oft aufgeschrocken bist.
Ja, aber in gewissem Maße gab es dort ein familienähnliches Umfeld. Auch Freundschaften wurden geknüpft. Wir Kinder haben zusammengehalten.
Hast du dich danach gesehnt, adoptiert zu werden?
Am Anfang ja, aber später nicht so sehr, da meine große Schwester und mein großer Bruder mich regelmäßig besuchten, und ich so mit ihnen rechnen konnte. Es gab sogenannte Probewochenenden, wenn fremde Ehepaaren ein Kind aus dem Heim nach Hause mitnahmen, und beobachteten, ob sie harmonieren, und danach entschieden sie sich, ob sie das Kind adoptieren wollen. Ich wurde auch paar Mal mitgenommen. Ich kann mich sehr gut erinnern, dass ich das Auto von jemandem einmal lenken durfte. Sie waren immer zuvorkommend und lieb mit mir, aber danach haben sie mich trotzdem nicht adoptiert.
Hattest du Erzieher, mit dem du gut auskamst?
Im Kinderheim nicht – jedenfalls erinnere ich mich nicht. In der Schule in Budaörs gab es eine Lehrerin, die mich ganz gut verstanden hat. Als Muttertag war, versuchte sie meine Mutter zu erreichen, damit sie zum Fest kommt, aber es war natürlich zu erwarten, dass es ihr nicht gelingt. Das Geschenk habe ich dann der Lehrerin gegeben. Ich war sehr enttäuscht. Ab dann habe ich mich sehr gut mit ihr verstanden und sie hat sich um mich viel gekümmert. Nach 20 Jahren habe ich sie besucht aber sie konnte sich leider kaum an mich erinnern.
Wie war es nach dem Kinderheim zu deiner Familie zu gehen?
Das war der glücklichste Moment in meinem Leben, als meine Schwester mich mit 9 von Mama Bodnár mitgenommen hat. Wir sind mit großen Hoffnungen in die Zukunft gegangen und haben ein neues Leben in Szeged begonnen. Sie hatte dort ein riesiges Bauernhaus mit ihrem Partner gemietet. Das Ganze war so idyllisch. Später hat sich schnell herausgestellt, dass meine Schwester keine Ahnung hatte, wen sie aufgenommen hatte: einen problematischen, hyperaktiven und fast unerziehbaren Jungen. Noch dazu war es auch nicht leicht mit meiner Schwester zurechtzukommen. Sie war temperamentvoll, ungeduldig und hatte einen starken Charakter. Wir haben sehr viel gestritten. Als sie ausgewandert ist, hat sie mich bei meinem Bruder gelassen, worüber er sich nicht gefreut hat. Gegen seinen Willen musste er mich aufnehmen, obwohl er schon meinen kleinen Bruder zu sich genommen hat. Leider war mein großer Bruder auf die Kindererziehung nicht vorbereitet. Auch er hatte es nicht leicht mit uns. Wir sind nicht gut miteinander ausgekommen und unsere Beziehung hat sich so stark verschlechtert, dass ich ausgezogen bin, als ich 19 Jahre alt war. Ich habe dann ein paar Monate als Obdachloser gelebt.
Es ist schwierig, sich von der Straße zurück ins Leben zu kämpfen. Wie hast du es geschafft, dass dir der Boden nicht unter den Füßen weggezogen wurde?
Ich konnte den Boden unter den Füßen nicht verlieren, weil mir ältere Kollegen viel geholfen haben. Einige konnten mir manchmal Unterkunft geben, oder haben mir auch Geld gegeben, um etwas essen zu können. Ich hatte irgendeinen Schutznetz, dem ich sehr dankbar bin – insbesonders Tivadar Farkasházy, der sogar an den Elternabenden meiner Klasse teilgenommen hat.
Heutzutage glauben mir wenige, dass ich früher ein junger, hübscher Titan war, ein Einzelgänger und ein Dichter. Die Mädchen haben es geliebt, so war es leicht sie kennenzulernen. Ich habe Bea, die größte Liebe meines Lebens kennengelernt. Sie hat sofort angeboten, dass ich in ihr Einfamilienhaus in Budakeszi (eine Stadt westlich von Budapest) einziehe. Damit hat sich mein Leben auf einen Schlag verbessert. Auf der anderen Seite wurden Olivér (Olivér Nacsa, der Parodiepartner von Iván Bagi) und ich immer erfolgreicher: ich wurde zu einem zielorientierten, fleißigen Jungen. Und natürlich sollte man die Rolle des Glaubens in meinem Leben nicht vergessen. Gott hat mich immer gerettet, auch vor mir selbst.
Immer wenn etwas passiert ist, was war deine Schutztechnik?
Seit meinem 8. Lebensjahr parodiere ich. Das Leid konnte ich mithilfe der Parodie viel leichter verarbeiten, weil ich den unangenehmen Zwischenfall im Nachhinein spielerisch verarbeiten konnte, wenn mich jemand beleidigt hat. Wenn ich meinen „Gegner“ parodiert habe, war ich nicht mehr so traurig, und konnte auch nicht mehr darüber jammern, dass jemand sich mit mir angelegt hat, da ich einen Witz über ihn gemacht habe. Heute bemühe ich mich, mich in die Lage des Anderen zu versetzen, und seine Meinung zu verstehen, weil ich noch keinen getroffen habe, der mit Absicht schlecht gewesen wäre.
Und die Erzieher, die dich geschlagen haben? Konnte man sie auch verstehen?
Die Erzieher konnten mit der Situation nicht umgehen. Sie haben sich für den einfacheren Weg entschieden. Ich bin mit ihnen nicht einverstanden, aber persönlich bin ich auf sie nicht wütend. Ich glaube auch nicht, dass Mama Bodnár böse gewesen wäre, sie hat nur geglaubt, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Sie hat schlechte Vorbilder in uns gesehen. Um Missverständnisse zu vermeiden, will ich keinen entschuldigen. Es ist nicht nötig. Wie das Leben so spielt, kann niemand kann die Strafe des Schicksals vermeiden – auch ich nicht.
Kann man einer Mutter verzeihen, die auf ihr Kind verzichtet?
Ja. Als Erwachsener habe ich es geschafft. Dabei hat mir viel geholfen, dass ich wusste, dass sie psychisch krank war. Meine Geschwister haben auch versucht mir klarzumachen, dass sie sich deshalb nicht um mich kümmern könnte. Ich habe Zeit gebraucht, um es zu verstehen. Wenn ich tausendmal auf die Welt kommen würde, würde ich auch sie wählen. Ich kann nur Gutes über sie sagen. Die meisten Texte von mir wurden an sie geschrieben.
Wie war eure Beziehung?
Sie hat mich nicht geliebt, das habe ich immer gewusst. Manchmal bin ich ihr eingefallen, dann hat sie mich zu sich genommen, aber dann hat sie mich auch sehr schnell zurückgebracht. Ich durfte zum Beispiel in ein Zimmer der Wohnung nicht hineingehen, nur meine Geschwister. Ich musste im Vorzimmer schlafen. Kurz vor ihrem Tod hat sie versucht, sich anzunähern, aber wir haben es nicht geschafft unsere Beziehung zu verbessern. Es ist aber interessant, dass ich meine Mutter mehr liebe, als meinen Vater. Man soll mit seinem Schicksal gut oder schlecht zusammenleben.
Was ist dein Schicksal?
Da ich nie in einer Familie gelebt habe, sind die in Familie lebenden Leute unfähig, mich zu akzeptieren. Ich hatte kein Kinderzimmer, sozusagen war ich ein Waise. Deshalb ist es egal wie stark ich mich bemühe, meine Mentalität weicht sehr stark von anderen ab. Ich kann wahrscheinlich jenen helfen, die auch in gleicher Situation sind, wie ich das war. Ich habe erfahren, dass die Familien mich wegen meinem schweren Schicksal mit zweifelnder Distanz empfangen haben. Ich habe es nie richtig gefühlt, dass sie mich voll akzeptieren würden. Der Hund ist ein Haustier, den die Menschen ohne Bedingung lieben, aber laut der Gesellschaft ein im Kinderheim aufgewachsenes Kind ist ein Wildtier.
Ist es schlecht für dich?
Dass ich nicht ihnen gehöre? Warum wäre es schlecht? Sie sind nicht wütend auf mich, und haben kein Problem mit mir, und verstehen wir uns. Wenn ich Kinder und Familie habe, dann werden sie mich vielleicht besser akzeptieren, weil ich ein bisschen so werde, wie sie.
Hast du deiner Meinung nach deinen Platz gefunden?
Ja. Natürlich. Ich habe Ziele, zum Beispiel beruflich immer mehr zu erreichen und auch eine Familie zu haben. Ich glaube, dass die Zeit gekommen ist, dass ich den Kindern und den Jugendlichen helfen kann, die das gleiche Schicksal haben, wie ich.
Warst du seitdem in Fót?
Einmal war ich für einen Filmdreh dort. Aber das war anders: ich war mit einer Filmcrew dort und so ergab sich eine verfälschte Situation. Ich glaube nicht, dass ich von alleine zurückgekehrt wäre.
Du hast sehr viel im Leben erreicht. Das kann nicht jeder. Warum?
Vielleicht, weil ich immer Ziele und Ambitionen hatte und sowie großes Glück, dass ich gute Menschen an bestimmten Stellen meines Lebens trafen. Die Kinder mit schwierigem Schicksal haben keine Ziele, weil sie nicht finden, wofür sie begabt sind. Es ist auch schwer zu akzeptieren, dass du selbst deine eigene Mutter, eigener Vater, Geschwister, und Freund in einer Person bist. Die Kinder in öffentlicher Fürsorge erwarten Liebe von anderen, die ihnen niemand geben kann, weil sie die Kraft des Menschen übersteigt. In der Tiefe ihres Herzen fühlen sie, dass ihr Leben absolut hoffnungslos ist und dass niemand sie lieben kann. Das Wichtigste und Wesentliche fehlt: Das Recht zum Leben, was Eltern normalerweise ihren Kindern geben – sie bekommen es nicht. Sie überleben nur, aber dieses Überleben fühlt sich wenig an. Sie sollen sich selbst lieben, es gibt keinen anderen Weg. Wenn sie es schaffen, dann können sie von anderen geliebt werden. Wir sind die Weltmeister des Überlebens.
Aus dem Ungarischen von Réka Lakatos
Lektoriert von Charlotte D.