Interview mit einem ehemaligen Heimkind. Die 35-jährige Heni erzieht drei Kinder, allein. Mit neun brachte  ihre Mutter sie mit ihrem Bruder in ein Erziehungsheim und ließ die beiden dort. Die Tragödie der Familie war damit noch nicht zu Ende, denn bald danach kam ihr Vater ins Gefängnis, ihre Mutter verstarb. Wie kann man nach solchen jugendlichen Traumata wieder aufstehen?

 Warum bist du ins Heim  gekommen?

Meine beiden Eltern waren schwere Alkoholiker, sie stritten viel, mein Vater war aggressiv. Es gab kein Geld für die Schulsachen, auch kaum für Kleider. Meine Tante kümmerte sich darum, dass wir aus der Familie herausgeholt werden, aber sie konnte uns nicht zu sich holen, da sie schwer krank war. Meine Großmutter hätte mich noch wollen, aber wegen ihrem Alter ging es auch nicht. Zuerst kamen wir nach Debrecen in ein Kinderschutzheim, danach von dort nach Hajdúnánás, später ins SOS-Kinderdorf Kecskemét.     

Welche Erinnerung hast du vom ersten Tag?

Unsere Eltern sagten uns, dass wir bald ins Heim kommen. Meine Mutter und meine Tante begleiteten uns dorthin. Ich bin hinter den Gittern geblieben und weinte ganz viel. Dann wurde es mir bewusst, dass ich da bleiben muss ohne meine Mutter. Ich wurde ausgezogen, gewaschen, gegen Läuse eingeschmiert, ich bekam  neue Kleidung und dann kamen wir zu den Anderen. Dort herrschten „Wolfsrechte”, aber ich hatte Glück. Ein älteres Kind wählte mich aus und sagte, dass mir niemand etwas antun darf, so war ich geschützt. Wir blieben drei Monate dort. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir ein einziges Mal draußen gewesen wären. Ich erinnere mich nur an die Gitterbetten, an die Türen mit Gitter und dass Mädchen und Jungen getrennt waren. Wir durften uns nur im Klassenzimmer treffen.  Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass wir ein einziges Mal auf dem Hof gespielt hätten.

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Waren deine Eltern zu Besuch?

Sie besuchten uns vielleicht zwei oder dreimal im Heim. Sie versprachen , dass sie uns besuchen würden, aber sie kamen nie wieder. Einmal hat unsere Mutter inständig gebeten uns fürs Wochenende mit nach Hause nehmen zu dürfen. Mein Bruder war gerade auf Urlaub,  also fuhr ich  alleine. Ich freute mich sehr, dass ich nach Hause durfte, aber als die Trinkerei und Streiterei wieder begannen, floh ich ins Heim zurück.  Danach hatten sie nie wieder gebeten uns mit nach Hause nehmen zu dürfen.    

Du hast in drei verschiedenen Plätzen gewohnt. Konntest du immer mit deinem Bruder zusammen bleiben?

In den achtziger und neunziger Jahren wurde nicht viel Wert darauf gelegt, dass die Geschwister zusammen bleiben konnten, doch meine Verwandten baten, dass wir mit meinem Bruder gemeinsam in Hajdúnánás untergebracht werden, damit sie mit uns in Kontakt bleiben können. Ins SOS-Kinderdorf hätte meine Pflegemutter zuerst nur mich mitgenommen, aber ihr hat dann auch mein Bruder Leid getan, der damals eine Sonderschule besuchte,  dessen Entwicklung beim dreizehnten Lebensjahr stehenblieb, und sie sagte, er soll auch mitkommen.

Ich habe noch eine jüngere Schwester, sie kam ins Säuglingsheim in Debrecen. Dieses Säuglingsheim war direkt neben unserem Heim (GYIVI). Wir baten mehrmals sie besuchen zu dürfen, aber es war nicht erlaubt. Es wurde uns gesagt, dass sie heimlich adoptiert wurde, deshalb dürfen sie uns nicht verraten, wo sie ist. Als ich mit neunzehn einen Privatdetektiv kennenlernte, bat ich ihn sie zu finden und so erfuhr ich, dass sie nicht adoptiert wurde, sondern dass sie nur ein paar Kilometer von mir entfernt lebt. Damals wollte ich ihr junges Leben nicht stören, ich dachte mir, dass ich sie nur manchmal beobachte. Und plötzlich läutete mein Handy, ihre Pflegemutter war am Apparat. Sie sah in ihren Akten nach und so fanden sie mich. Meine Schwester wohnt jetzt mit ihrem kleinen Sohn bei mir.

Wie entwickelte sich das Leben deiner Eltern weiter?

Im Jahr 1992 starb meine Mutter, mein Vater kam dann gleich ins Gefängnis. Ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihm. Er bekam fünf Jahre, aber er wurde wegen guter Führung früher entlassen. Später verstarb auch er.

Was hat er getan?

Er durchschnitt die Schlagader meiner Mutter, die dieser Verletzung erlegen ist. Deshalb kam er ins Gefängnis. Es war kein Mord, da auch meine Mutter betrunken war. Angeblich verletzte er meine Mutter und ging schlafen, aber meine Mutter verblutete bis zum nächsten Morgen. Ich glaube, dass sie aufgrund des Alkohols nicht aufwachte. Wir waren gerade in einem Camp  im Urlaub, jedoch wurde es uns nicht gesagt, damit es unseren Urlaub nicht verdirbt. Deswegen gingen wir auch nicht auf die Beerdigung, aber  das war eine gute Entscheidung.

Warst du böse auf deinen Vater?

Als er ins Gefängnis kam, versuchte er mir Briefe zu schicken, aber ich schrieb ihm zurück, dass ich keinen Kontakt mit ihm haben möchte. Da war ich zwölf Jahre alt. Als mein Vater entlassen wurde, brachte ich meine Schwester einmal zu ihm. Als ich unser Haus in der Straße sah, blieb ich kurz an der Ecke stehen, und holte tief Luft. Ich dachte daran, wie wichtig es für meine Schwester ist, ihren Vater einmal im Leben zu sehen, wenn sie ihre Mutter – auf dessen Kommen sie immer wartete – nicht kennenlernen konnte. Ich schilderte meinem Vater meine Gefühle, ich schaffte es vor ihm zu stehen und es ihm in sein Gesicht zu sagen, so konnte ich das Ganze in mir abschließen. Ich fragte ihn, warum er das getan hat. Er antwortete: ’Ich wollte es nicht, glaub mir mein Töchterchen, wenn ich bemerkt hätte, dass es eine Not gibt, hätte ich sicher geholfen.’ Das war Alles was er gesagt hat. Es gab nur dieses einzige Treffen, ich beschäftigte mich nicht weiter damit.

Wie war dein Verhältnis zu deiner Mutter?

Ich  hing sehr an meiner Mutter, sie war ein toller Mensch. Wenn ich gewusst hätte, dass sie so jung stirbt, hätte es mir um die Zeit Leid getan, die ich nicht mit ihr verbrachte. Mein Plan war, wenn ich achtzehn Jahre alt werde, gehe ich arbeiten und schicke ihr Geld nach Hause.

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Wieweit ersetzte deine Pflegemutter deine leibliche Mutter?

Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meiner Pflegemutter. Als ich ins Teenie-Alter kam, hatten wir unsere kleinen unbedeutenden Diskussionen, zum Beispiel: warum gehe ich direkt nach der Disco arbeiten. Es war sicherlich auch schwer für meine SOS-Mutter,  den  Kindern beizubringen sich zu öffnen. Sie war eine gute Pflegemutter, sie hielt uns immer sauber und sie beschäftigte sich immer mit uns. Ich brauchte auch nicht mehr. Ich hätte sie nie als meine leibliche Mutter akzeptieren können, weil ich wusste, dass ich eine „andere echte” habe. Das war klar für alle. Oft wurde der Satz gesagt – meiner Meinung nach in jeder Familie -, dass du nicht meine leibliche Mutter bist. Meine Pflegemutter hat uns immer darin bestärkt, dass das unsere echte Familie ist, woher wir stammten.

Wir trafen uns auch jetzt im SOS Kinderdorf. Hängst du daran?

Ich komme manchmal zurück, aber langsam gibt es bald niemanden mehr, zu dem ich kommen könnte. Meine Pflegemutter ist in Pension gegangen, zu ihr habe ich eigentlich keinen Kontakt mehr, sehr selten telefonieren wir.

Was hat dir geholfen eine so schwere Geschichte zu überstehen?

Die Kinder im Heim. Wir alle hatten ähnliche Schicksale. Zum Beispiel, als ich ins Heim kam, war mein Fuß verbrüht, da ich mit drei Jahren in die heiße Milch  getreten bin und ich hatte immer Socken an, weil ich mich dafür schämte. An einem Tag spielten wir mit den Kindern im Sand auf dem Hof und sie fragten mich, warum ich die Socken nicht ausziehe. Sie baten mich es sehen zu dürfen. Dann zog ich ihn aus und sie streichelten meine Wunde und seitdem hatte ich kein Schamgefühl mehr. Sie trauten sich mich anzugreifen. Gegenüber meinem Kindesalter, wo ich immer wegen allem geweint habe und beleidigt war, bin ich jetzt ganz hart geworden, ich kann auch kaum noch weinen.

Mit Achtzehn hast du das SOS-Kinderdorf verlassen. Wie ist dein eigenes Leben weiterverlaufen?

Ich hatte eine SOS-Schwester und wir haben geplant zusammenzuziehen, aber sie wurde schwanger und zog nach Hause, so bin ich in der Untermiete allein geblieben. Doch ich wollte auch studieren. Ich schaffte nach zwei Jahren das Abitur, daneben arbeitete ich  in der Gastronomie. Das SOS Kinderdorf unterstütze mich, aber es war für die Untermiete und für all meine Bedürfnisse nicht genug. Ich stieg in der Karriereleiter auf: Zuerst studierte ich Lebensmittel- und Gemischtwarenhandel, dann wurde ich Finanzassistentin, nachher machte ich das Abitur und schlussendlich absolvierte ich die pädagogische Hochschule. Mit Zwanzig lernte ich meinen Partner kennen, wir kauften ein kleines Haus und als ich 28 Jahre alt war, kam meine erste Tochter zur Welt. Heute sind unsere Kinder 4, 6 und 8 Jahre alt. Wir leben nicht mehr zusammen, aber das Verhältnis zwischen uns ist gut. Momentan arbeite ich als Kellnerin, weil ich die Sprachprüfung nicht bestanden habe. Die Kinder kamen nacheinander, so wurde sie immer weiter verschoben, aber im September versuche ich es erneut. Wenn man mich bei der Tür hinauswirft, klettere ich durch das Fenster zurück.

Translated by Judit Aschenbrenner-Frank

Proofread by Sophie Nitsch