Marika Varga Károlyné ist Pflegemutter bei den SOS-Kinderdörfern. Beim letzten Interview erzählte sie uns von ihrer ersten Adoption. Jetzt geht ihre Geschichte weiter.

Was ist passiert, seitdem du zwei kleine Mädchen zur Adoption gegeben hast?

Nachdem sie gegangen waren, rief ich das Jugendamt an und teilte ihnen mit, dass ich sie hasse und dass sie mich ja nicht anrufen sollen, weil ich mich erstmal beruhigen muss. Einen Monat später klingelte trotzdem das Telefon. Genau an dem Tag, an dem die kleinen Mädchen nach Spanien gekommen sind, wurde ein bildhübsches kleines Mädchen namens Szilvi geboren. Dabei dachten sie an mich und meine erste Frage war, wann ich sie abholen kann. Meine Meinung schien sich abrupt zu ändern. Ich bin wie eine Tigermutter, ich tue alles mit Herz und Seele. Das kleine Mädchen war kerngesund und Tochter einer jungen Roma-Frau, was mich aber so gar nicht gestört hat, weil ich Roma-Kinder besonders gerne habe. Ich weiß genau, dass sie viel mehr Hilfe und Liebe beanspruchen, als andere Kinder.

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Nach fünf Monaten konnte ich sie zu mir holen. Ich kaufte ihr wunderschöne Kleider, denn so ein kleines Mädchen hatte ich noch nie und die Sachen der anderen beiden Mädchen habe ich wie einen Schatz gehütet. Das Baby hatte braunes Haar und wundervolle braune Haut. Ich schluchzte, als hätte ich sie gerade zur Welt gebracht. Schon seit Jahren träume ich von einem kleinen Mädchen, aber im während der Geburt hat sich niemand für mich gefreut, sondern nur die leibliche Mutter wurde bemitleidet.

Warum durfte sie ihr Baby nicht mit nach Hause nehmen?

Die 21-jährige Mutter hatte schon einen vierjährigen Sohn, der auch bei Pflegeeltern lebt. Er wurde den Eltern entzogen, weil sein Vater aggressiv und gewalttätig war. Szilvis Vater war auch ein brutales Tier, er hat sie so verprügelt, weil sie ohne Kind aus dem Krankenhaus gekommen ist – was natürlich seinem Verhalten geschuldet ist-, dass sie zur Nachuntersuchung mit aufgeschwollenem Gesicht und einem Veilchen erschienen ist. Sie lebt immer noch mit ihm zusammen. Diese arme Frau, sie kann sich nicht aus dieser Beziehung befreien, weil sie sich an den Typen klammert. Der Typ wiederum klammert sich an ihre Sozialleistungen und braucht jemanden fürs Bett.

Wie erging es dir mit der Kleinen?

Ich habe sie aus dem Krankenhaus abgeholt und Karcsi hat sie sofort an sich genommen. Schon auf der einstündigen Autofahrt entschieden wir uns, sie zu adoptieren. Ich hoffte so sehr, dass sich ihre Mutter nicht melden, damit sie es ist, die das Kind weggeben will. Als ihre Mutter das erste Mal anrief, war ich überrascht, aber auch erfreut. Beim ersten Eingliederungstreffen weinten wir gemeinsam. Sie traute sich nicht, ihr eigenes kleines flauschiges Baby aus dem Korb zu nehmen. Ich machte ihr Mut und sagte ihr, dass es ihres ist. Mir tat es so leid, dass die Kleine anstatt der Muttermilch ihrer Mutter meine zusammengerührte Babynahrung bekommt.

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Hat ihre Mutter sie besucht?

Manchmal hat sie es einrichten können, zu sogenannten „Beziehungstreffen“ zu kommen. Für Erika, so heißt sie, war ich eine Mutter. Ich habe ihr die Reisekosten bezahlt, damit sie ihr Kind sehen kann. Als Szilvi drei Monate alt war, ist sie mit einem normalen, aber älteren Mann zusammengekommen, der ein Haus und Tiere hatte. Leider haben seine Kinder sie nicht akzeptiert und so ist sie ihrem aggressiven Ex-Typen wieder hinterhergelaufen. Ich rief sie an, wenn Szilvi lachte oder wenn als einen Zahn bekam. Ihr Typ schlug sie, riss ihr das Telefon aus der Hand.

Als Szilvi ein Jahr alt wurde, hat Erika noch ein Kind bekommen, dessen Vater aber nicht ihr Freund war. Ihr Freund hat sie zwei Tage lang nicht den Notarzt rufen lassen, und das, obwohl ihre Fruchtwasserblase schon geplatzt war. Er wollte das Baby sterben lassen, weil er ganz genau wusste, dass es nicht seins ist. Letztendlich brachte sie der Rettungsdienst barfuß ins Krankenhaus. Ihr Sohn ist an meinem Geburtstag geboren, mich rief sie als erstes an. Sie hatte rein gar nichts, keine Lebensmittel, keine Einlagen, keine Zigaretten. Dann rief ich den Pflegeelterndienst an. Es hätte drei freie Plätze gegeben, aber weil seine Schwester bei mir war, bekam ich ihn. Erika meinte, dass sie aus dem Fenster springt, wenn nicht ich ihren Sohn mit nach Hause nehmen darf. Sie gaben mir das Kind, als ich ins Krankenhaus kam, seiner Mutter lief die Muttermilch aus, und trotzdem durfte er nicht gestillt werden, damit er sich nicht daran gewöhnt. Drei Tage später brachte ich den kleinen Robi nach Hause. Die damals einjährige Szilvi wusste vom ersten Augenblick an, dass er ihr Bruder ist. Sie küsste sein Gesicht und hielt ihren Finger ins Gitterbett, wenn sein Schnuller rausgefallen war.

Ich entgegnete Erika, dass sie mir die Möglichkeit der Adoption von Szilvi entzieht, wenn ich Robi behalten soll. Auch dem Jugendamt erklärte ich das Dilemma: Ich würde gerne Szilvi adoptieren, aber dann kann Robi nicht bei mir bleiben, weil ich nur noch ein Kind adoptieren kann. Dann würden sie die Kinder trennen. Auf dem Amt machten sie mir weis, dass ich nur eine Pflegemutter bin und nicht anderen Eltern die Chance auf Adoption wegnehmen soll.

Als ihr euch für das Pflegeelterndasein entschieden habt, hattet ihr auch vor zu adoptieren?

Ein kleines Mädchen wollte ich unbedingt auch adoptieren.

Aber das klappte nicht.

Nein, ich bin nicht Jesus. Wir haben uns ganz schön lange den Kopf zerbrochen. Es war die schwerste Entscheidung meines Lebens. Ich wollte Szilvi bei uns behalten, weil sie sich an unsere Familie gewöhnt hat, und meine anderen Kinder auch Roma-Kinder sind. Am Anfang hatte ich Angst, dass jemand nur wegen Robis weißer Hautfarbe auch seine kleine Schwester aufnimmt. Szilvi ist gut erzogen, wunderbar, klug – aber halt braunhäutig. Die Adoptiveltern brauchten einen Tag Bedenkzeit, nicht aber, weil Szilvi Roma ist, sondern sie nicht freundlich zu ihnen war. Wenn ich Szilvi adoptieren würde, wäre sie bei uns das neunte Kind neben meinen beiden Söhnen und den anderen sechs Pflegekindern. Bei den Adoptiveltern wären sie nur zu zweit. Sie hätte die Mutter und den Vater nur für sich, das wäre bestimmt gut für sie.

Die Idee, die Mutter direkt zu unterstützen, kam nicht auf?

Wöchentlich sprachen wir mit dem Familienbetreuer, wir versuchten sie in einem Frauenhaus unterzubringen aber sie ist immer wieder zu ihrem Freund zurückgegangen. In der Zwischenzeit hat sie noch ein Kind zur Welt gebracht, aber er hat sie vor der Geburt so sehr verprügelt, dass sie mit einem Schädelbruch in den Kreissaal ging. Ich habe alles versucht, damit es nicht von mir abhängt, dass das Kind nicht zurück in seine leibliche Familie kommt.

Mit dem Bezahlen ihrer Reisekosten hast du die Lösung des Kindesschicksals aufgeschoben.

Ich habe auch mal mit 22000 Forint (ca. 70€) auskommen müssen. Ich weiß, wie schwer das ist, sich das aufzuteilen. Ich habe viel gearbeitet, damit ich heute hier stehe, wo ich stehe. Mein Mann fragte mich gefragt, warum ich Erika bedauere. Sie hätte auch ackern können, damit die Kinder bei ihr bleiben können – Hilfe hat sie ja bekommen.

Was weißt du heute von den Kindern, wie haben sie sich nach der Adoption entwickelt?

Ich weiß gar nichts, das ist mein Problem. Während der Kennenlernphase haben wir Adressen ausgetauscht, wie bei jeder Adoption. Dass wir danach nach Kecskemét gezogen sind, wissen sie auch. Wir haben erzählt, dass wir Szilvi gerne adoptiert hätten, aber dass wir das Geschwisterpaar nicht trennen wollten. Wir waren total ehrlich und haben daran gearbeitet, damit die Adoption erfolgreich wird. Alles, was wir wussten, haben wir weitergegeben, als Unterstützung für das weitere Leben.

IDP -families live in the darkness

Nach unserem Umzug habe ich sie einmal angerufen und gesagt, dass alles gut verlaufen ist und dass wir sie uns gerne jederzeit besuchen können. Jedem meiner ehemaligen Kinder habe ich eine Postkarte mit der neuen Adresse geschrieben. Die Eltern von Robi und Szilvi haben selbst darauf nicht reagiert. Es vergingen mehrere Monate und ich wusste nicht mal, ob die Adoption geklappt hat, weil ich ja jetzt in einem anderen Komitat wohne. Ich erwartete, dass sie wenigstens deswegen einmal anrufen und mich mit guten Nachrichten beruhigen. Zwei Monate später habe ich sie nochmal angerufen, aber sie haben nicht abgenommen. Ich bekam ein schlechtes Gefühl und rief nochmal an, falls sie gerade unterwegs waren – aber auch dieses Mal nahm niemand den Hörer ab. Am folgenden Tag kam eine E-Mail, dass sie es sehr bereuen versprochen zu haben den Kontakt mit mir zu halten. Solange sie leben, werden sie uns dankbar sein, dass wir zwei so wunderbare Kinder großgezogen haben, aber sie reagieren nicht nur aus Zufall nicht und brauchen erstmal Zeit um als Familie funktionieren zu können. Ich antwortete und schrieb, dass ich es verstehe, mich aber jährlich über ein Foto der Kinder freuen würde. Bis heute schickten sie keins und meinen Sohn haben sie auf Facebook gesperrt. Ich habe Angst, dass sie die Adoption vor den Kindern verheimlichen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihnen von ihren ersten zweieinhalb Jahren erzählen werden. Wir führten damals Tagebücher über die Kinder…

Vielleicht hat es sie abgeschreckt, dass du mit der leiblichen Mutter guten Kontakt hattest.

Mit ihr habe ich den Kontakt abgebrochen. Das musste so sein, damit die Kinder adoptionsfähig werden.

Hat Erika das verstanden?

Als sie den Bescheid erhielt, verstand sie nicht, was es bedeutet, wenn ein Kind „adoptionsfähig“ ist. Sie rief mich an und ich fragte sie, ob sie weiß, was das für sie heißt. Ich machte ihr klar, dass wir uns jetzt das letzte Mal sprechen. Ich glaube sie kapierte das nicht, sie dachte, die Kinder kommen zu anderen Pflegeeltern. Ich sagte ihr, dass sie ihre Kinder nie wieder sehen wird, so wie ich. Und dass darunter nicht sie am schlimmsten leiden wird, sondern meine Familie. Ich wurde deutlich und meinte, dass wir uns nie wieder etwas zu sagen haben und dass sie mich nie wieder anrufen soll. In diesem Augenblick tat nicht sie mir leid, ich habe einfach nur das Interesse der Kinder betrachtet. Das hat mich abgehärtet und war eine große Lektion für uns. Mittlerweile hänge ich mich nicht mehr so tief rein. Für mich ist das ein Riesendilemma, weil man der leiblichen Familie helfen sollte, gleichzeitig aber sieht, dass dieser Weg nicht immer sinnvoll ist.

Aus dem Ungarischen von Charlotte D.