Welches sind Symptome sexuellen Missbrauches bei Kindern? Wie können die Eltern oder Pflegeeltern helfen, das Trauma aufzuarbeiten? Wie soll die sexuelle Aufklärung bei diesen Kindern geschehen? Wie funktioniert die Therapie. Wir haben mit der Psychologin des Kecskeméter SOS Kinderdorfes, Nagy Dalma, im Rahmen einer gemeinsamen Projektreihe mit dem Norwegischen Zivilen Förderungsfond, welche auch eine Weiterbildung zum Thema Kindesmissbrauch beinhaltet, gesprochen.

Was verbindet dich mit dem Thema?

Seit einem halben Jahr arbeite ich als Psychologin im Kecskeméter Kinderdorf. Ich habe an einem Training über sexuelle Belästigung bei Kindern unter der Leitung von Szőke András teilgenommen. Mittlerweile behandele ich mehrere Kinder, die von Missbrauch betroffen sind, beziehungsweise bei denen der Verdacht aufkam. Früher habe ich bei einer staatlichen Agentur für Adoption gearbeitet. Auch dort hatten wir mit Kindern zu tun, die unter derartigen Belästigungen gelitten haben. Weil bei denen die Fälle meistens schon eine lange Zeit zurückliegen, konnten sie größtenteils aufgearbeitet werden.

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Wie erkennt man, dass ein Kind sexuell belästigt wird?

Je kleiner das Kind, desto weniger kann es sich wehren und es trifft seine Persönlichkeit stark. In so einem Fall erleidet das Kind auf jeden Fall ein Trauma, aber das hängt davon ab, wie lange der Missbrauch andauerte und ob es innerhalb der Familie passierte. Letzteres ist noch schlimmer, weil das Kind sich verraten fühlt, wenn es nicht aufpasst, wem es traut. Häufig zeigen diese Kinder gesteigertes sexuelles Interesse, provozieren Erwachsene und Kinder. Das andere Extrem ist, dass das Kind sich vollkommen einschließt, sich emotional entleert, viel weint, und seine vorher gut funktionierenden Beziehungen und Freundschaften abbauen. Das Vertrauen und die Verbindungen in die Außenwelt werden erschüttert, das Kind verliert sein Vertrauen und wendet sich von anderen ab. Weitere Symptome können Lernschwierigkeiten und Aufmerksamkeitsstörungen sein, welche im Allgemeinen Auswirkungen eines Traumas oder eines Krisenzustands sind. Übertriebene Emotionsausbrüche, Aggressionen, Alpträume, erhöhte Angespanntheit und rückblendende Erinnerungen können vorkommen.

Was können die Eltern oder Betreuer machen, wenn sie so etwas entdecken?

Man muss das sofort melden, Anzeige erstatten und ein Verfahren gegen den Verbrecher einleiten. Ganz wichtig ist, dass man dem Kind glaubt, was es sagt. Kleinkinder denken sich so etwas nicht aus. Man sollte nicht anfangen verblüfft zu sein und die Situation zu verdonnern, damit traumatisiert man das Kind noch mehr, es würde zeigen, dass es keinen Ausweg gibt. Man muss das Kind so akzeptieren, wie es ist, gemeinsam mit seinem Trauma. Und  je früher man sich um Fachhilfe kümmert, desto besser – für das Kind und auch für die Eltern.

Worin ist die Situation dieser Kinder anders, die in staatlicher Aufsicht leben oder adoptiert wurden?

Bei diesen Kindern sind die Beziehungen häufig gestört. Wenn man sie aus der leiblichen Familie geholt hat oder diese sich von ihnen abgewendet haben, dann ist das von vornerein ein Verlust. Wenn der Missbrauch innerhalb der leiblichen Familie passiert, erleben sie, dass derjenige, der ihnen Schutz bietet, sie verletzt. Wenn es in staatlichem Schutz passiert, wird das Vertrauen in die Außenwelt und in die Erwachsenen ebenfalls gestört und es wird schwerer Kontakte zu knüpfen und zu festigen. Die Eltern oder Pflegeeltern können so am besten helfen, wenn sie das Kind inklusive Träume akzeptieren. Niemals ist es erlaubt, darüber nachzudenken, wie das Kind wohl wäre, wenn es dieses Trauma nicht hätte, als wäre das alles nicht passiert. Man muss dem Kind helfen, dass es mit allem Drum und Dran zu einem ganzheitlich gesunden Menschen wird. Natürlich wird die Erinnerung dadurch nicht besser, das ist auch nicht das Ziel, sondern die Spannung dieser Erinnerungen muss gesenkt werden.

Wie sollte man darüber mit dem Kind sprechen?

Es sollte keine Tabus und keine Geheimnisse über die Vergangenheit geben. Ein solch sicheres Umfeld muss es geben, in dem man darüber reden kann und in dem das möglich ist, was das Kind will. Die Eltern müssen darauf vorbereitet sein. Wenn sie angespannt reagieren, merkt es das Kind und später kann Scham und Schuldbewusstsein in ihm ausfalten und es wird sich selbst nicht akzeptieren. Wenn das Kind fragt, muss ihm eine seinem Alter entsprechende Antwort gegeben werden.

Auch die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauches muss an das Alter des Kindes angepasst sein, da ein 5, 8 oder 13-Jähriges Kind anders denkt und versteht. Wenn sich erneut Symptome zeigen, das Kind Probleme verursacht und erneut anfängt Fragen zu stellen ist es sinnvoll sich noch einmal an Fachpersonal zu wenden, weil die Zeit reif ist, dass man sich erneut damit beschäftigt.

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Wie sollte die sexuelle Aufklärung bei so einem Kind geschehen?

Man muss ihm sagen, dass das, was der Erwachsene mit ihm gemacht hat, nicht akzeptabel ist. Über Sexualität muss altersgerecht gesprochen werden, genauso wie bei anderen Kindern. Dabei ist es wichtig zu erklären, dass Sexualität eine positive Sache ist, freudenreich und es dabei um die Tiefe einer Beziehung geht, die von Liebe handelt. Das, was bei sexuellen Missbrauch passiert, handelt nicht von Liebe sondern von der Person, die dieses begeht, die das Kind ausnutzt und in solch eine Situation bringt, derer es noch nicht gewachsen ist und die nicht gut für ihn ist. Dieses ist inakzeptabel, es sollte sich dabei um eine gegenseitige Sache handeln. Dem Kind muss man lehren, dass es der Herrscher über seinen Körper ist und dass es zu nichts gezwungen sein darf. Nur wenn es das möchte, dann ist es erlaubt. Einem Teenager kann man auch sagen, dass Missbrauch niemand von Sexualität handelt, sondern von Macht und dass diese Machtausübung demjenigen, der über einem steht, Freude bereitet und nicht der Akt an sich. Einem Fünfjährigen kann man das nicht beibringen.

Wie sollen die Eltern oder Pflegeeltern handeln, wenn sich plötzlich rausstellt, dass das Kind Missbrauch durchlebt hat? Wenn zum Beispiel die Pflege- oder Adoptiveltern ein solches Kind bekommen und davon vorher nichts wussten?

Die Eltern müssen an sich arbeiten, an ihren Vorurteilen, an ihrer Betroffenheit, ob sie das Kind so akzeptieren können. Solange das nicht gelingt, können sie dem Kind nicht helfen. Die Eltern sollten sich auch psychologische Unterstützung holen.

Wie groß ist die Chance auf ein normales Leben eines Kindes nach sexueller Belästigung?

Je früher das Kind aus der misshandelnden Umgebung herauskommt, desto größer ist die Chance, dass es sich normal sozialisiert. Wer im Alter von acht bis zehn Jahren in so einer Umgebung lebt, der kann viele Symptome aufweisen: Impulskontrollstörungen, Aggressionen, Wutausbrüche, Vertrauenslosigkeit und in besonders schweren Fällen auch posttraumatische Stresssymptome. Diese zeigen, dass das Kind für lange Zeit unter Drohungen steht, welche es nicht bekämpfen kann, weil es dafür nicht ausreichend stark ist. Es wird darunter zerbrechen und seine Persönlichkeit wird leiden. Oft identifizieren sich die Opfer mit dem Aggressor, auch das ist ein Abwehrmechanismus. Der Betroffene kann aber auch zu einem Verbrecher werden, weil wenn es ihm getan wurde, dann hat es auch das Recht dazu, es anderen zuzufügen – es hat kein Schuldbewusstsein. Dennoch fühlt es oftmals Scham und Schuldbewusstsein und hat Angst, die Gefühle sind ambivalent. Die Überzeugung des Leidtragenden ist häufig, dass sie auch schuldig sind, sie verdienen es. Das muss man korrigieren und das Opfer sollte man niemals deswegen tadeln, was mit ihm passiert ist. Nicht das Kind provozierte, sondern der Erwachsene entschied sich.

Wie viel Zeit braucht ein Kind um diese Misshandlung aufzuarbeiten?

Das hängt von sehr vielem ab, ob der Täter ein Fremder oder ein Familienmitglied war, wie alt das Kind war, und welche Abwehrstrategien vorhanden waren. Wenn das Kind Anzeichen von Verschließung oder Aggressionen zeigt, kann man daraus schließen, dass es daran arbeitet.
Im Verhalten werden sich weniger Extreme zeigen, die Leistungen verbessern sich, Beziehungen werden aufgebaut…
Es gibt kein Rezept, wer wie viel Zeit braucht, aber die Außenwelt wird erkennen, wenn es dem Kind besser geht.

Während zum Beispiel in der Pubertät das Kind wächst, kann es vorkommen, dass das schon aufgearbeitete Trauma wiederkehrt?

Mit dem Erwachsenwerden können die Zeichen wiederkommen, aber wenn der oder die Jugendliche sich in einem sicheren Umfeld aufhält, dann wird es nicht erneut traumatisiert. Fragen, Schwierigkeiten und extreme Gefühle sind normal. In vielen Fällen ist es sinnvoll, wenn auch die Eltern professionelle Hilfe beanspruchen, damit sie ihrem Kind besser helfen können.

In einem früheren Artikel zu diesem Thema war herauszulesen, dass es nicht einfach ist, einen passenden Psychologen zu finden. Warum ist dieses Thema auch für einen Psychologen so schwer?

Hierbei ist es besonders wichtig, dass der Psychologe seine Gefühle unter Kontrolle hat. Die Hauptsache ist, dass er den Patienten so nimmt, wie er ist und nicht das Trauma unter einer Lupe betrachtet, sondern das ganze Wesen. Wenn das dem Fachpersonal gelingt, dann kann er ganz schön viel helfen. Viel Eigenarbeit ist dazu notwendig, er muss genau identifizieren, was in dem Patienten vor sich geht.

IMG_1897Du hast an dem oben genannten Training teilgenommen. Was hat es dir gebracht?

Das Training war gut in der Wissensvermittlung, es hat einige Dinge klargestellt. Mir hat es besonders geholfen, als ich aus dem Augenwinkel eines Misshandelnden auf die Sache geschaut habe. Es wird ja niemand so geboren, er ist auch Opfer. Das heißt nicht, dass ich damit die Verantwortlichkeit verringern will, sondern während der Arbeit mit den Tätern müssen wir wissen, warum jemand zu solch einem wird. Auf den Täter warten ernsthafte Konsequenzen,  aber auch dort steht der Mensch mit Mittelpunkt und nicht seine Ausschweifung. Für mich war das ebenfalls noch nützlich, es formte meinen Gedankengang ein wenig um, wie ich als Helferin der Sache gegenüber stehe. Ein anderer Teil des Trainings half bei der Akzeptanz der Opfer: diese Kinder sind nicht exzentrisch oder exotisch, mit ihnen ist etwas Traumatisierendes passiert, was aufgearbeitet werden muss. Nichtsdestotrotz will das Kind spielen, sehnt sich nach Sicherheit und funktioniert wie jedes andere Kind. Auch in diesem Verständnis half das Training.

Wie lange dauert es, bis das Kind während der Behandlung von seinen Erlebnissen erzählt?

Wer es noch gut vor Augen hat und bei dem es erst eine kurze Zeit her ist, der erzählt es meistens schon beim ersten Mal. Bei wem es schon eine ganze Weile her ist, der braucht mehr Zeit, ein paar Sitzungen. Wer es erst seit Kurzem erlebt, der ist darin so verloren, dass das Vertrauensverhältnis viel schneller zustande kommt, das Kind ist dann anfälliger, in einem Krisenzustand, seine Energie schwindet und es sehnt sich nach Hilfe. Ich schlage es nicht breit um zu wissen, was passiert ist, sondern reagiere auf die aktuellen Bedürfnisse des Kindes, zum Beispiel spielen wir. Erst einmal soll sich ein vertrautes Umfeld entwickeln. Wenn das geschehen ist, fängt das Kind von sich an zu erzählen.

Wie läuft so eine Therapie bei so einem Kind ab?

Dafür gibt es spezielle Techniken. Die durch das Trauma erlebte Anspannung kann man senken und tolerierbar gestalten, die Möglichkeit des Erzählens soll gegeben sein, das Kind soll sich integrieren lassen und an seiner Persönlichkeit arbeiten. Nebenbei vermittle ich immer, dass es akzeptierbar ist und dass man damit das Schuldbewusstsein senken kann.

Bei einem schweren Fall, wenn das Kind im Alter zwischen acht und zehn Jahren innerhalb der Familie misshandelt wurde, öffnet sich das Opfer meistens nur langsam. Bei so einem Kind dauerte die wöchentliche Therapie schon ein halbes Jahr, bis wir da angelangt sind, dass es über seine Gefühle spricht. Es hat mich auf die Probe gestellt, wie ich auf seine obszönen Ausdrücke reagiere oder mit seinem Widerstand, denn er hat es so gelernt, dass auch negative Beachtung eine Beachtung ist, so wie es dann Aufmerksamkeit bekam, als es geschlagen wurde. Das stellte mich auf die Probe, ob ich es akzeptiere. Am Anfang sind wir so auseinander gegangen, dass das Kind nicht mehr wiederkommt und auch nichts mehr anzumerken hat.

Wie behandelst du das?

Ich akzeptiere seine Gefühle, wenn der Patient provoziert, widersteht, aufsteht, rausgeht und sagt, dass er niemals wieder kommt. Ich habe gesehen, dass er wütend war und das ist in Ordnung – er darf wütend sein. Ich habe dann gefragt, ob er formulieren kann, was er möchte. Und wenn er spielen möchte, dann spielen wir. Wenn er Ruhe möchte, dann sind wir ruhig.

Ein Erwachsener geht aus freien Stücken zur Therapie, wie ist das bei einem Kind?

Mit dem Hinweis der Eltern, Pflegeeltern oder einem Berater beginnt die Therapie. Wenn ein Kind in das Kecskeméter SOS Kinderdorf kommt, wird eine psychologische Untersuchung gemacht und entschieden, ob es professionelle Unterstützung benötigt oder nicht. Das Kind kann das noch nicht für sich entscheiden, aber wenn die Helfer eine gute Arbeit machen, dann geht es dem Kind besser, die Spannung lockert sich und die Therapie wird motivierter. Einem 14-Jährigen Kind kann ich erklären, dass es für sich selbst geht. Die Kleineren können solch eine Entscheidung noch nicht treffen.

Was kann man bei einem Kind aus einem besonders schweren Umfeld erreichen?

Wichtig ist, dass wir realistische Ziele abstecken, die den Fähigkeiten des Kindes angepasst sind. Das Ziel eines nur leicht misshandelten Kindes könnte es auf lange Frist sein, dass es einen Beruf erlernt und das für später einhält. Alles hängt von seinen Fähigkeiten, von seiner Persönlichkeit und seiner Eigenenergie ab. Wenn das Kind diesen Weg bis zum Ende geht, dann kann es sein späteres erwachsenes Leben qualitativ wertvoller leben, als wenn er keine Hilfe bekommen würde.

Aus dem Ungarischen Charlotte D.