Die 30-jährige Ágota hat im Kindesalter jahrelangen sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie durchlebt, und meint heute, es aufgearbeitet zu haben. Als ihr eigenes Fachpersonal schaut sie auf ihre Geschichte. Im Rahmen der Reihe über sexuellen Missbrauch haben wir mit ihr gesprochen.

Was ist dir passiert?

Mein früher geliebter Opa hat mich belästigt. Eine Eindringung fand nicht statt, aber er hat mich berührt und meine Geschlechtsorgane geleckt. Das dauerte über Jahre, zwar mit Unterbrechung, aber zwischen meinem achten und zwölften Lebensjahr.

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Wusstest du sofort, dass das nicht in Ordnung ist, oder ist dir das erst später klar geworden?

Ich wusste es sofort. Nicht nur körperlich war ich ziemlich weit entwickelt im Vergleich zu Gleichaltrigen. Emotional hingehen war ich leicht erpressbar. Hätte ich es nämlich meinen Eltern erzählt, dann hätte ich auch meine Großmutter nie wieder sehen können.

Hast du es irgendjemandem erzählt?

Als die Sache schon seit zwei Jahren am Laufen war, habe ich es zuerst meiner Großmutter erzählt, die es wiederum meiner Mutter erzählte. Meines Wissens haben sie sich gemeinsam mit meinem Großvater hingesetzt und darüber geredet. Danach hörte es für eine Weile auf. Sie haben ihm bestimmt gedroht, dass es nicht ohne Konsequenzen bleibt, wenn er damit weiter machen wird.

Hat dir deine Familie sofort geglaubt oder haben sie gezweifelt?

Da waren Zweifel. In ihrer ersten hilflosen Wut hat meine Mutter mich gefragt, warum ich mich so gehen lassen habe. Das hat mich jahrelang begleitet. Nach einer Pause hat mein Großvater mich dann wieder angefangen zu belästigen. Nach außen hin blieb alles beim Alten, die Familie hielt weiterhin zusammen. Sie sagten nur, dass ich nicht alleine mit meinem Großvater sein soll. Das habe ich auch davor schon versucht zu vermeiden…
Mein Vater, meine Geschwister und auch weiter entfernte Verwandten wissen es bis heute nicht, und von mir werden sie es auch nicht erfahren.

Und wieder einmal hast du die Belästigung erduldet?

Ich war ja immer noch erst zehn Jahre alt, schwach, beeinflussbar und ich habe mich sehr geschämt. Meiner Mutter nach zu urteilen hätte ich mich ja selber verteidigen müssen, sie fragte ja, warum ich mich gehen lassen habe. Also war ich die Dumme, weil ich mich wieder gehen lassen habe. Bis heute habe ich ihr nicht gesagt, wie erdrückend dieser Satz für mich war. Das hat mich erneut für zwei Jahre verteidigungsunfähig gemacht und mein Selbstbewusstsein für so zehn Jahre geschwächt. Sie hat es bestimmt nicht so gemeint, nur im ersten Augenblick dachte sie nicht nach, was sie da gerade sagt. Als Erwachsene erkenne ich das jetzt. Letztendlich endete die Belästigung mit dem Tod meines Großvaters.

Gab es strafrechtliche Konsequenzen?

Nein, ich war sogar eine Zeit lang sehr sauer auf meine Mutter. Doch seit dem ich sehe, wie die Justiz zu solchen Dingen steht, besonders weil eine Eindringung nicht stattfand, bin ich ihr sehr dankbar, dass ich diese Prozedur mit Anzeige und Anhörung nicht durchmachen musste. Nicht gerne hätte ich Anschuldigungen seitens der Polizei gehört, dass wenn es nicht beweisbar ist, dass sie mich dann wegen Falschaussage bestrafen könnten, oder dass ich schon zu reif war, und damit sicherlich provokativ.

Wie hast du dich während der Misshandlungen als Kind gefühlt?

Ich habe ausgeschaltet. Seitdem segne ich meine damalige dissoziative Reaktion, weil bedrückende Anteile meiner Erinnerungen zum Glück nicht wieder hoch kamen. In meinen Träumen bin ich ständig vor dem Schrecken davon gelaufen. Es hat mir übertriebenen Mut und Verwegenheit gegeben, weil ich wusste, dass ich vor Dunkelheit, Sturm und Einsamkeit keine Angst haben musste. Das war nicht das, was Schrecken für mich bedeutete.

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Wie wirkten sich die Belästigungen auf deine Emotionen und deine späteren Beziehungen aus?

Solange ich das nicht aufarbeiten konnte, solange konnte ich mich nicht entwickeln und mich auf erwachsene Aufgaben konzentrieren. Ich hatte eine ernste depressive Phase während der Universität. Zu der Zeit habe ich mehr an Selbstmord gedacht, als an meine Prüfungen. Ich habe es überlebt, aber solange ich noch mit meinen inneren Dämonen zu kämpften hatte, konnte ich meine Bachelorarbeit nicht zu Ende bringen und ich konnte mich auch nicht entscheiden, welche Fachrichtung ich nach der Universität einschlagen möchte.
Mit meinen Beziehungen hatte ich Glück. Das Schicksal hat mich und einen normalen, verständnisvollen Typen zusammengebracht, aber natürlich gab hin und wieder Schwierigkeiten.

Wie konntest du das aufarbeiten? Kann man es überhaupt aufarbeiten?

Bei mir waren die erforderlichen stabilen Grundzüge vorhanden, auf die man bauen konnte und die unzerstörbar waren. Ja, man kann es aufarbeiten. Ich sage nicht, dass niemals etwas davon zurückkommen wird, aber ich habe keine markanten Symptome und es stört mein jetziges Leben nicht. Fachhilfe habe ich nicht in Anspruch genommen, aber die Hilfe von Halblaien. Zwar habe ich sonst jede Hilfe angenommen, welche sich ergab, weil ich mir selbst ziemlich wichtig war. Ich denke, dass dieses die Aussteuer einer guten Kindheit ist. Am meisten hat mir eine Person geholfen aus meiner Depression heraus zu kommen, was interessanterweise erst nach dem Tod meines Großvaters begann (aufgrund seiner Krankheit hatte ich ernsthaft geglaubt, dass ich ihm vergeben kann, aber später habe ich erkannt, dass das eine riesige Selbsttäuschung war). Ich habe mich viel an Literatur gehalten, an Fachliteratur genauso wie an Fiktionalem. Alles, wörtlich genommen wirklich alles, was mich am Leben hielt, habe ich mitgenommen. Die Hauptsache war, dass ich glaubte, dass ich dafür nichts konnte. Dass ich mich als kleines Kind nicht hätte wissen müssen zu verteidigen. Dass ich als Grundschülerin die Lügen nicht erkennen hätte müssen, welche große Hürden bei der Suche nach Hilfe darstellten. Dass es wirklich nicht an mir lag. Ich musste glauben, dass an mir nur das liegt, was ich daraus in der Zukunft mache. Nicht in der Vergangenheit – da konnte ich nichts für.

Als erstes war es notwendig, dass ich ausspreche, was wirklich passiert ist. Jahrelang habe ich versucht mich selbst davon zu überzeigen, dass es gar nicht wahr war, sondern ich es mir bestimmt nur eingeredet habe, wir hätten ja sonst in der Familie darüber geredet. Ansonsten würde ja nicht jeder so tun, als wäre gar nichts geschehen. Als Kind war außer den Alpträumen, ein paar schwachen Kopfschmerzen, einer mittelschweren Sozialphobie und ab und zu ein paar dissoziativen Reaktionen in Extremsituationen nichts, und wirklich nichts, wohingegen ich als Studentin stark depressiv wurde, sterben wollte und ich mich auch jeder kleine Stress fertig gemacht hat,  als wäre ich gar nicht da gewesen. Von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer, solange ich nicht aussprechen konnte, dass es wirklich passiert war. Dann, dass ich nichts dafür konnte.  Danach fand ich langsam den Weg aus der Dunkelheit, die mich verschlang. In einigen bestimmten sexuellen Situationen gab es auch danach unangenehme Erlebnisse, aber auch nur das kleinste Zeichen war für alle meine bisherigen Partner – nicht so viele – ein Zeichen damit aufzuhören, was gerade nicht gut für mich war. In kleinen Schritten habe ich an mir und meinen Dingen gearbeitet und es verging. Das war Arbeit für viele Jahre.

Unter einer guten Kindheit verstehst du, dass deine Eltern dich liebten?

Ja, sie haben mich geliebt. Meine frühe Kindheit war sicher, und es ist kein Zufall, dass mich dieser bedrückende Satz meiner Mutter fast genauso zerstört hat, wie die langandauernde Belästigung meines Großvaters. Bis dahin habe ich gedacht, dass mich meine Eltern vor allem schützen können.

Hast du deinem Großvater vergeben?

Das ist eine gute Frage. Ich glaube, ja. Ich bin ihm nicht böse, aber ich werde ihn nie verstehen können. Er wusste ja genau, dass es für mich nicht gut ist und ich weiß, dass er mich eigentlich gemocht hat. Das Ende der Belästigung kam so, dass er krank wurde, kaum noch reden konnte und ich irgendwie spürte, dass er meine Vergebung erbat, bevor er starb. Damals habe ich dann gedacht, dass ich ihm vergeben habe und erst später wurde mir klar, dass ich es doch nicht tat. Auch meiner Mutter konnte ich nur schlecht verzeihen, dass sie mir nicht geholfen hat, als es notwendig gewesen wäre.

Warum wohl hat dein Großvater dir das angetan?

Er war kein pädophiler Verbrecher, die Sache hatte eine typische Dynamik von sexueller Belästigung innerhalb der Familie. Er wollte mich nicht, weil ich ein Kind war, sondern genau aus dem entgegengesetzten Grund. Abgesehen davon war er eigentlich ein normaler Mensch, eine ziemliche autokrate Gestalt, aber das war in seiner Altersklasse auch nicht selten. Ich denke, dass er in diesem Fall ein autoritäres Familienhaupt war, wo im Vergleich dazu die Frau kein anderes Mittel hat als Sexentzug (obwohl das nur eine Vermutung ist). Mit seinem frühreifen, und schon fast fraulichen, geliebten Enkelkind „passierte irgendwas in der Liebe“, und das Verhältnis sexualisierte sich von erwachsener Seite, was er selbst auch erst spät anerkennte. Mit Verstand verstehe ich das, ich kenne die Fachliteratur, aber ich glaube, dass sich ein erwachsener Mensch nicht so gehen lassen kann, sondern Verantwortung für seine Taten übernehmen muss.

Wem hast du davon erzählt, mit wem kannst du darüber reden?

Zuerst nur mit meiner Großmutter und meiner Mutter, danach über Jahre mit niemandem. Später mit meinen zwei Partnern, von denen der eine jetzt mein Ehemann ist, und meinem besten Freund. Manchmal rede ich mit Schicksalsgenossen darüber, aber nur wenn ich denke, dass sie daraus profitieren können.

Wirkt sich deine Erfahrung darauf aus, wie du deine Kinder erziehst?

Ich versuche darauf Acht zu geben, dass wir ein solches Verhältnis haben, dass wir uns gegenseitig gleich alles anvertrauen, egal was passiert, und nicht erst Jahre später. Ich bemühe mich sie so zu erziehen, dass es für alles Worte gibt. Beziehungsweise versuche ich das zu stärken, dass sie fähig sind sich selbst zu verteidigen und nicht an sich selbst zweifeln oder in uns und dass sie möglichst nicht erpressbar sein sollen. Und selbstverständlich bemühe ich mich das zu lehren, dass egal was passiert sei, ich bei ihnen bin.

Beruflich beschäftigst du dich mit der Hilfe für Kinder. Spielt dein Missbrauch eine Rolle in der Wahl deines Berufes? Kannst du deine Erfahrung mit anderen in deiner Arbeit vergleichen?

Auf irgendeine Art und Weise wollte ich als erstes mich damit selbst behandeln, weil man als Unterlegener nicht helfen kann. Vielleicht gab genau das auch Stärke zur Aufarbeitung. Wenn es den Menschen durch eine ähnliche Geschichte noch dümmer darstellt, dann kann man nicht helfen. Aber in irgendeiner Art und Weise kann ich es benutzen. Im Allgenmeinen gibt es Anzeichen von Missbrauch. Das Wissen, dass man es bekämpfen kann, hilft um zu helfen. Wenn sich die Situation so ergibt, dann sage ich dem Betroffenen, dass es funktionieren kann. Wenn ich aber nicht spüre, dass meine Erfahrung ihm oder ihr helfen kann, dann reicht es auch, dass ich es weiß.

Deiner Meinung nach was sollte ein Betroffener tun um es aufzuarbeiten?

Es gibt eine Webseite namens „Rede darüber!“ (Ungarisch: Beszélj róla!), welche Geständnisse von Opfern sexueller Übergriffe im Kindesalter sammelt. Der Betroffene sollte seine Geschichte dort aufschreiben – oder irgendwo anders, wo er auf eine verständnisvolle Umgebung trifft, wo es ihm hilft zu glauben, dass nicht das Opfer dafür verantwortlich ist. Man sollte solche Menschen suchen, welche einen so akzeptieren, wie man ist – solange, bis man es selbst auch begreift. Das ist ein schwerer Schritt, aber von da an wird alles leichter.
Ich denke sowieso, dass das einfachste ist erstmal Fachpersonal aufzusuchen, welcher sich einer annimmt und erst danach mit anderen spricht, damit man einen sicheren Hintergrund im Falle von Enttäuschung hat. Nicht jeder hat das Glück, dass er diese Stütze von Laien bekommt. Sollte der Therapeut in Frage stellen, dass es wirklich passiert sei, dann sollte man schnell einen anderen Therapeuten suchen. Es gibt solche, die deine Geschichte akzeptieren und dich als Person auch. Wer es schaffen will, sollte sich nur solchen Menschen anvertrauen. Dieses „Es ist ja nichts passiert“ bringt einen eher zurück in die grauenhafte Dunkelheit.

Aus dem Ungarischen von Charlotte D.